Lynchmord im Suppenteller

von LUDWIG SEYFARTH, zur Ausstellung Dinner for Sinner im Drawing Room Hamburg,  26.4. – 21.6.2018

 

 

Die Europa auf dem Stier ist ein beliebtes Motiv klassischer Porzellankunst, von dem die Berliner Künstlerin Rona Kobel zwei aktuelle Varianten ersonnen hat. Die erste folgt stilistisch und in der Akkuratesse der Ausführung noch den klassischen Vorbildern, die zweite Version hingegen entfernt sich radikal von gediegenem Hausschmuck. Europa ist vom Stier gestiegen und hat sich ein Messer in die Brust gerammt. Brexit, EU- feindliche Politik in vielen Ländern: Ist Europa am Ende?

Die Frage nach der „Stabilität und Wehrhaftigkeit von Demokratie und Freiheit“ ist das dezidiert formulierte Anliegen Rona Kobels, die sich dafür jedoch anderer Mittel bedient als der üblichen Medien, die man bei politischer Kunst gemeinhin erwartet.

Die „Europa“ ist nur eine von zahlreichen Porzellanfiguren und –accessoires, welche die Künstlerin als „politisches Tafelgedeck“ entworfen und in der Königlichen Porzellanmanufaktur in Berlin hergestellt hat: Speise- und Suppenteller, Kannen, diverse kleinere Accessoires und einen großen Tafelaufsatz mit großer Terrine. Letztere ist allerdings in eine prekäre Schieflage geraten, weil die drei Figuren, die sie tragen, ihrer Aufgabe nicht gewachsen scheinen. Es sind collagehafte Monstren, die den Kapitalismus, die Freiheit und die Rechtsstaatlichkeit verkörpern sollen. Aber ein gieriger, allesfressender Muskelprotz, eine kokett mit sich selbst beschäftigte, leicht be- kleidete Dame und eine klapperige, leere Ritterrüstung sind offenbar nicht in der Lage, die gesellschaftliche Stabilität aufrecht zu erhalten.

Vorbild für diese karikierten Darstellungen sind Allegorien, die abstrakte Begriffe anschaulich verkörpern sollen. Diese haben im Barock und Rokoko nicht nur die Schlossgärten bevölkert, sondern auch als Porzellanfiguren zur Dekoration der Innenräume und Speisetafeln beigetragen. Die Ikonographie von Porzellangeschirr und – figuren diente der Repräsentation und Stützung eines feudalen Systems, von dessen Flair auch bürgerliche Gesellschaften noch zu profitieren suchten. Doch das vererbte edle Porzellanservice wurde in der Moderne zum Synonym des Geschmacks der Großeltern, das als überflüssiger „Nippes“ bestenfalls noch für den Flohmarkt taugt.

Auch die größten Meisterwerke der Porzellankunst sind in der Regel immer noch in Kunstgewerbe- und nicht in Kunstmuseen zu sehen. Und wenn moderne oder zeitgenössische Künstler wie Picasso sich der Keramik zuwandten, dann wird die rauhe Oberfläche des Tons oft der glasierten Oberfläche vorgezogen. Kritische politische Aussagen erwartet man auch bei avancierter Keramikkunst kaum. Und wenn Künstler dezidiert zu Tisch bitten, wie es Rona Kobel tut, geschieht das eher nicht in traditionellem Tafelgedeck, sondern in mobilem, selbstgezimmertem Inventar, etwa bei Rirkrit Tiravanija, der seit den 1990er Jahren thailändisches Essen in Ausstellungsräumen serviert hat.

Auch solche „Dienstleistungskunst“ wird von Rona Kobel subversiv unterwandert. Denn die Suppe könnte einem übel aufstoßen, wenn man sie ausgelöffelt hat und in die Tiefe des Tellers blicken kann. Die Motive, die die Böden der Suppenteller „zieren“, entstammen Medienbildern von Lynchmorden, die in den letzten Jahren in Afghanistan, in Indien oder in Südafrika verübt wurden, oder von Naturkatastrophen (Hurrikan, Tsunami, Dürre, Erdbeben). Eine dritte Motivgruppe veranschaulicht politische Allmachtsphantasien wie die Eroberung Roms durch den IS oder Putins Satan II-Rakete als Demonstration militärischen Weltmachtstrebens. Lieblicher scheinen die Verzierungen der Speiseteller. Die Blumen auf ihren Rändern zeichnet jedoch ein nicht direkt sichtbares, unangenehmes Moment aus. Ihnen wurden Namen gegeben, die deutliche rassistische Konnotationen enthalten.

Die Weinflaschen können mit Stopfen verschlossen werden, die dem Atompilz über Nagasaki und einem explodierenden Molotow-Cocktail nachgebildet sind – und die entsprechenden Spitznamen „Fat Man“ und „Molly“ tragen: So knallen die Korken imaginär immer weiter. Und die Kerzenständer sehen so aus, als sein sie erschlafft und lassen den Kopf hängen, wobei auch Assoziationen an mögliche Zustände eines anderen männlichen Körperteils nicht ausbleiben. „Stubenrein“ ist Rona Kobels Tafelgedeck gewiss nicht, aber sexuelle Anzüglichkeiten gehörten schon bei den Porzellanfiguren des Rokoko, anders als politische Themen, durchaus zum Standardrepertoire.